Lebenslage

Lieber Herr Bünzli.

Dies ist ein offener Brief an einen gewissen Herrn Bünzli, Sinnbild für alle Herren und Damen Bünzlis dieser Welt.

„Lieber Herr Bünzli.

Sie haben das ganz richtig mit einem einzigen alarmierten Blick erfasst: Menschen wie ich sind das wahre Feindbild unserer Zeit. Wir untergraben die Gesellschaft, wir machen uns in aller Heimlichkeit breit und stürzen dann das System. Menschen wie ich, das sind die Kommunisten Ihrer Generation. Die Satanisten, die Hippies, die Raver, die Punks, die heutige Jugend, die Ökos, die Rapper, die Abtrünnigen, die Obdachlosen, die nutzlosen Studenten, die Linken, die Sozialhilfeempfänger, die Ausländer, die Emanzen – Menschen wie ich haben viele Bezeichnungen. Der Begriff ist egal, wichtig ist, was in Ihren Augen dahinter steht: Das Feindbild. Das Böse. Der Endgegner.

Menschen wie ich, die bringen Ihre Welt durcheinander. Menschen wie ich sind grundsätzlich für Offenheit, sie sind sogar für Toleranz. Sie sind womöglich der Ansicht, dass es sich lohnt, zu unserem Planeten Sorge zu tragen, weil ihre Generation nicht die letzte sein soll. Sie kaufen zuweilen Recycling-Produkte, sie kaufen womöglich Bio-Lebensmittel, sie benutzen eventuell der Umwelt zuliebe den ÖV.

Menschen wie ich, die pflegen einen desaströsen Lebenswandel. Sie haben nicht den Anstand, erst zu heiraten, bevor sie paarweise zusammenziehen, sie haben zuweilen nicht einmal den Anstand, Ihr eigenes Beziehungsmodell nachzuleben. Mann und Mann? Frau und Frau? Gewiss, das hat es zu Ihrer Zeit noch nicht gegeben. Dass bereits Sokrates stockschwul war, ist bloss ein Übersetzungsfehler, bestimmt.

Menschen wie ich, die erschüttern das System sogar noch subtiler. Sie tragen zuweilen infantile Socken, sie haben öfter Mal Löcher in den Kleidern, sie haben vielleicht Haare, aber nicht unbedingt eine Frisur – ihre regimekritische Garderobe (oh ja, Sie wissen schliesslich genau, was alles hinter diesen Streifen, Punkten, Blumen und Sternen steht!) weist Flecken von der Gartenarbeit, von schauderhaften Essmanieren, von Haustieren oder Kindern auf.

Menschen wie ich, die machen den Staat kaputt. Sie bezahlen Ihre Rente mit saftigen Abgaben, sie unterstützen die Infrastrukturen durch hohe Steuern. Sie gehen an die Urne, obwohl sie noch nicht das Greisenalter erreicht haben, und wählen natürlich allesamt die Falschen.

Menschen wie ich, die arbeiten zum Teil mit Menschen am Rande der Gesellschaft, mit Menschen, die man zu Ihrer Zeit einfach weggesperrt (oder vergast. Sorry, das musste sein) hätte – wie viele Steuergelder, fluchen Sie an dieser Stelle, würde diese einfache Massnahme wieder einsparen. Steuergelder, die man für die wirklich wichtigen Dinge wie den Ausbau der lächerlichsten Armee der Welt oder ein paar neue Kampfjets, die nach 10 Minuten Flug bereits an die Landesgrenze knallen. Für wichtige Dinge wie Propaganda gegen die sexuelle Aufklärung und Sensibilisierung eigener Grenzen von Kindern – mal ehrlich, das ganze Kindsmissbrauchthema kam ja auch erst auf, weil die Kinder heutzutage wissen sollen, wie ihre Körperteile heissen (hirnrissige Idee, lieber Herr Bünzli, völligst hirnrissig. Wären die Kinder heute noch so eingeschüchtert wie früher, würde niemand über Pädophilie reden und wir hätten wieder Ruhe, wie früher!). Schlimmer noch sind Menschen wie ich, die ihre untergrabenden Ideen an die heutige oder morgige Jugend weitergeben. Kampf allen Subkulturen, lieber Herr Bünzli, das Böse soll ausgemerzt werden!

Menschen wie ich, das sind Parasiten, das sind die Maden, die sich in Ihrer Gesellschaft eingenistet haben und sich jetzt an Vater Staats Busen vollfressen. Herr Bünzli, Sie haben völlig recht: Diese 20- 30 Stunden Schichten, das ist doch alles Tarnung. Tarnung für Menschen wie mich, die nach solchen Arbeitszeiten stinkfrech aufs Trottoir sitzen, um auf den Bus zu warten. Um Ihnen dann versuchsweise ein schlechtes Gewissen einzureden, wenn Sie, absolut im Recht,  schimpfen wie ein Rohrspatz, dass man zu Ihrer Zeit nicht einfach am Boden sass, wenn man müde war.

Zu Ihrer Zeit, werter Herr Bünzli, da stand man einfach, bis man ins Grab fiel.

Lieber Herr Bünzli, ich bin sehr froh, dass ich all Ihren Klischees entspreche. Ich bin mir sicher, dass dies Ihnen Ihren Seelenfrieden für den heutigen Tag zurückgibt. Am Besten, lieber Herr Bünzli, Sie lassen sich heute Abend in ihrer Stammkneipe mit glasigem Blick und Blocher-Fahne mit Ihresgleichen wieder mal darüber aus. Über Menschen wie mich.

Liebe Grüsse,

Ihr Änni“

 

 

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