Geschätzte Leserschaft: Es folgt ein kurzer Unterbruch des flauschig-oberflächlichen „guckt mal, die Stiefmütterchen blühen“ und „das neuste aus unserem Badezimmer“-Standardprogramms. Ich habe einen Brief an den obersten Chef der IV geschrieben (und auch ausgedruckt, unterschrieben und abgeschickt), den ich gerne auch einem breiteren Publikum untebreiten möchte. Bitte lest das, bitte teilt das.
Sehr geehrter Herr Ritler
Ich bin Sozialpädagogin und begleite dadurch seit über 13 Jahren Menschen mit unterschiedlichen Möglichkeiten und Einschränkungen, unter anderem Menschen mit Autismus. Aktuell mache ich eine Weiterbildung auf CAS-Stufe an der HfH in Zürich („Autismus-Spektrum-Störungen im Kinder- und Jugendalter“). Heute fand in diesem Rahmen ein Kurs zum Thema „Förderung von Kommunikation bei Menschen mit ASS“ statt. Dabei war auch ein Mitarbeiter der Firma „Active Communication“ anwesend, der uns diverse elektronische Kommunikationshilfen für Menschen mit einer verzögerten Sprachentwicklung zeigte und erklärte. Bei der Frage nach der Finanzierung solcher Hilfsmittel erwähnte er, dass die IV offenbar auf ein Stufenmodell der Sprachentwicklung zurückgreift, um zu entscheiden, ob sie Kommunikationshilfen finanziert oder nicht. Das für mich als Sozialpädagogin wirklich Absurde dabei: Offenbar würden die Menschen mit den grössten Defiziten, in diesem Stufenmodell von der sprachlichen Entwicklung her auf Stufe 1 oder 2 anzusiedeln, NICHT unterstützt. Nur Menschen, die bereits auf Stufe 3 oder höher eingestuft werden könnten, würden durch die IV eine Kommunikationshilfe finanziert bekommen.
An dieser Stelle meine Frage: Stimmt das so? Greifen Sie bei der Beurteilung, ob ein Kind, ein Jugendlicher oder gar ein Erwachsener von Ihnen finanzielle Unterstützung bei einem so fundamentalen Unterstützungsbereich wie dem der Kommunikation, tatsächlich auf ein Stufenmodell zurück und entziehen dabei ausgerechnet den Schwächsten die finanzielle Unterstützung für eine Kommunikationshilfe?
Für den Fall, dass das tatsächlich der gängigen Praxis entspricht: Wie können Sie mir das begründen? Wie können Sie, selbst wenn Sie – wie ich vermute – über keine Ausbildung im Bereich Logopädie oder Pädagogik verfügen, ethisch und moralisch dahinter stehen, dass ausgerechnet die Schwächsten keine Unterstützung erhalten?
Für mich als Sozialpädagogin und auch als Mensch ist das in der Tat absolut nicht nachvollziehbar. Stellen Sie sich für einen kurzen Moment vor, Sie wären anstatt mit Ihren aktuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten mit einer schweren geistigen Behinderung sowie einer Störung aus dem autistischen Spektrum geboren worden. Dass Sie das nicht sind, ist nämlich reiner Zufall. Ja, es ist schwer, sich so etwas vorzustellen, und wie sich das wirklich anfühlt, werden Sie und auch ich wohl nie erfahren, aber es kann gut sein, dass sowohl Sie wie auch ich durch einen Unfall oder aber im Alter mit Demenz durchaus auch auf Pflege und sehr viel Unterstützung im Bereich Kommunikation angewiesen sein werden. Schon alleine darum ist es eine gute Übung, sich vorzustellen, wie man in dieser Situation wohl selber gerne behandelt werden möchte.
Sie leben also in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen. Morgens kommt eine Person zu Ihnen ins Zimmer. Sie gibt Laute von sich, die Sie aber nicht verstehen. Seit etwa drei Stunden haben Sie furchtbare Schmerzen im linken Fuss. Es ist furchtbar unangenehm, und Sie möchten sehr gerne mitteilen, dass es schmerzt, Sie möchten unbedingt, dass dieser Schmerz aufhört. Leider haben Sie keine verbale Sprache, und durch Ihre schwere Entwicklungsstörung auch keine Möglichkeit, Gebärden zu lernen. Sie haben leider auch keine Kommunikationshilfe, da die IV diese nicht finanziert, weil Sie ja „zu schwer behindert“ sind. Was werden Sie in dieser Situation wohl tun? Je nach Charakter, würde ich sagen, aber Aggressionen sind in einer solchen Situation sehr wahrscheinlich. Vielleicht schreien Sie, wenn Sie das können, vermutlich können Sie das nicht. Vielleicht schlagen Sie die Person, die im Raum ist, vielleicht beissen Sie sie, kneifen sie, ziehen ihr an den Haaren, vielleicht beissen Sie auch sich selber in Ihrer Verzweiflung, schlagen sich ins Gesicht, schlagen Ihren Kopf gegen die Wand, rammen Ihre Fingernägel in Ihren Arm, bis das Blut in Strömen fliesst und man Sie fixiert oder mit Medikamenten ruhig stellt.
Das alles kann passieren, versichere ich Ihnen aus Erfahrung, wenn Menschen sich nicht mitteilen können. Wenn Menschen nicht einmal Grundbedürfnisse äussern können, wenn sie keine Möglichkeit haben, zu verstehen und verstanden zu werden. Kommunikation ist lebenswichtig. Je eingeschränkter die Möglichkeiten eines Menschen im Bereich der Kommunikation ist, desto lebenswichtiger ist die Unterstützung im Bereich der Kommunikation, im wahrsten Sinne, es sterben immer wieder Menschen mit Mehrfachbehinderungen an Lungenentzündungen etc., weil sie ihre Symptome nicht so ausdrücken können, dass sie verstanden werden.
Nur für den Fall, dass Ihre Argumente für diese Finanzierungs-Praxis, wenn sie denn wirklich so aussieht, in eine Richtung wie „bei so schweren Beeinträchtigungen der Sprache sind ja auch keine Fortschritte möglich“ gehen sollten: Komplett falsch, aber wirklich absolut komplett falsch (und falls Sie mein Urteil anzweifeln: Fragen Sie eine*n beliebige*n Logopäd*in / Pädagog*in / Entwicklungspsycholog*in). Entwicklung im Bereich der Kommunikation kann nur geschehen, wenn ein Mensch Erfolge hat. Wenn er erfährt, dass er verstanden wird, dass er wahrgenommen wird, dass sich Kommunikationsversuche für ihn lohnen, dann wird er dazu lernen, dann hat er eine reelle Chance, von Stufe 1 auf diesem Modell zu Stufe 2 zu kommen. Gerade auf dem tiefsten Level können die „Ursache-Wirkungs-Hilfsmittel“ aus dem Bereich der unterstützten Kommunikation enorme Fortschritte ermöglichen.
Es ist mir ein Anliegen, von Ihnen eine ehrliche und präzise Antwort zu erhalten. Sollte die Entscheidung über Finanzierung von Kommunikationshilfen wirklich über dieses Stufenmodell erfolgen und dabei ausgerechnet die Menschen mit der tiefsten Entwicklungsstufen bestrafen, ist mein Vertrauen in die Kompetenz der IV nachhaltig erschüttert. Solche Missstände darf es in unserem Land nicht geben, das will und kann ich nicht akzeptieren.
Vielen Dank dafür, dass Sie mich und mein Anliegen Ernst nehmen und mich nicht mit einer automatisierten 3-Zeilen-Antwort abspeisen.
Freundliche Grüsse
Änni, dipl. Sozialpädagogin FH
3 Kommentare
Lovey
11. April 2016 bei 16:38Auf DIE Antwort bin ich auch gespannt. Sie könnte demnächst mein „Sturmkind“ betreffen!
A. aus U.
11. April 2016 bei 17:13Andererseits berate ich gerade eine Familie mit einem Jungen im Vorschulalter mit ASS, der zwar ein elektronisches Kommunikationsgerät von der IV finanziert bekommen hat, aber absolut nichts damit anzufangen weiss, weil er von den Voraussetzungen noch weit entfernt ist und den Beteiligten das nötige Wissen fehlt. In diesem Fall würde es meiner Erfahrung nach mehr Sinn machen, zuerst das PECS aufzubauen. Alle mir bekannten Fälle aus dem Autismus-Spektrum, die mit einem elektronischen Gerät kommunizieren, kommunizierten davor mittels PECS.
Ich kenne das von der IV verwendete Stufenmodell nicht, aber womöglich geht es dabei genau darum, zu klären, ob die Voraussetzungen für die Benutzung eines Gerätes erfüllt sind oder nicht.
Änni
11. April 2016 bei 17:23Selbstverständlich muss das Gerät den Möglichkeiten eines Kindes entsprechen, aber es gibt auch wesentlich einfachere Hilfsmittel als die komplexen Sprachcomputer. Die sogenannten „Ursache-Wirkungs-HIlfsmittel“, die ich erwähne, damit meine ich z.B. Die sogenannten „Big Macks“:
https://www.active-education.ch/index.php/de/kommunikation-sprache/sprechendematerialien/ds-167-1349875728-detail
PECS ist sicher ein hilfreiches System für viele Menschen, die auf unterstützte Kommunikation angewiesen sind. Aber kein noch so hilfreiches System passt für ALLE Menschen, und man kann einfache Geräte wie das oben beschriebene problemlos mit PECS kombinieren. Was du schilderst, scheint ein Beispiel dafür zu sein, dass die Beratung „welches Hilfsmittel passt für die Person X“ gründlich daneben ging. Ist eine unzureichende Beratung Grund genug, einfach mal ALLEN Menschen mit wirklich tiefem Sprachentwicklungslevel die Finanzierung von Hilfsmitteln zu untersagen?!