Sehr geehrter Herr Plate,
Ihre umfassende Abrechnung in der NZZ mit der Schweiz, deren EinwohnerInnen und ihrer Mentalität nötigt mich zu einer Stellungnahme, und zwar in einer Ausführlichkeit, welche die Kommentarfunktion unter Ihrem Artikel sprengt. Denn, geschätzter Herr Plate, wenn Sie mir, ohne dass Sie mich auch nur ansatzweise kennen, unterschwellig „latenten Antisemitismus“, „geistige Enge“, „die völlige Abwesenheit von Selbstironie“ und, das beste, „Ausländerfeindlichkeit“ unterstellen, und das alleine aufgrund der Tatsache, dass ich, was nicht zu leugnen ist, den Schweizer Pass besitze – ich hoffe sehr, trotz unserer kulturell bedingten unterschiedlichen Auffassungen von Humor erkennen Sie hier eine gewisse Ironie – dann scheissen Sie mir höchstpersönlich metaphorisch gesprochen dermassen auf die Kappe, dass ich nicht umhin kann, das vor Fäkalien triefende Stück hiermit in hohem Bogen in Ihr wertes Heimatland zu katapultieren, und das, obwohl es meine Lieblingskappe war.
Aber beginnen wir sachte: Dass Sie sich in der Schweiz nicht wohlgefühlt haben, ist bedauerlich; Umso schöner für Sie, dass Sie nun endlich wieder da leben können, wo Sie sich heimisch fühlen. Ihr Erstaunen hingegen, dass in einem Land ausserhalb Ihres Heimatlandes eine andere Mentalität herrscht, erstaunt mich wiederum nicht wenig: Bei Ihrem Bildungsniveau hätte ich glatt vermutet, dass Ihnen bereits vor dem Auswandern bewusst war, dass die Menschen in einem anderen Land womöglich etwas anders ticken als in Ihrer Heimat. Wie auch immer, wie schockiert Sie darüber offenbar waren, dass dieses Land anders funktioniert als Deutschland, zeigt schon nur Ihren Einstieg in den Text, den ich mal kurz paraphrasiere: „Die Schweiz ist sauteuer!!“ In den zehn Jahren, in denen Sie hier gelebt haben, ist Ihnen offenbar bewusst geworden, dass hier alles, wirklich alles viel teurer ist als in Deutschland. Eine bahnbrechende Erkenntnis! Was Sie im Artikel allerdings vergessen haben, war, Ihr Gehalt aufzuführen, das Sie in dieser Zeit eingestrichen haben, ein kleiner Flüchtigkeitsfehler, wahrscheinlich. Wie viele Fränkli das gewesen sein mögen? Ich hege eine verwegene Vermutung: Ein paar Fränkli mehr, als Sie in Deutschland verdient hätten, womöglich?
Doch kommen wir zu Ihrem hauptsächlichen „Generalverdacht“ den SchweizerInnen gegenüber: Ausländerfeindlichkeit ist ein Problem hierzulande, das will ich nicht leugnen. Inwiefern dieses Problem in helvetischen Gefilden grösser ist als in deutschen, kann ich nicht beurteilen. Ich kenne Deutschland nur als Touristin. Eine Anmerkung dazu habe ich dennoch: Kann es rein hypothetisch sein, dass Sie in der Schweiz als Ausländer direkter mit Ausländerfeindlichkeit konfrontiert wurden, als Sie das in Deutschland als Deutscher werden? Des weiteren möchte ich, wie zu Beginn erwähnt, Ihnen ausdrücklich dazu raten, Ihre rassistischen Pauschalisierungen, zu finden in Passagen wie „Eigenschaften an den Schweizern…: den latenten Antisemitismus, die Ausländerfeindlichkeit…“ gefälligst da zu platzieren, wo sie hingehören: An einen Stammtisch, zum Beispiel, in eine bierselige Runde, die sich an der Plakativität, welcher sich der Hang, eine ganze Nation in die selbe ideologische Ausrichtung zu stecken, gerne bedient, nicht stört, auf keinen Fall jedoch ausgerechnet in einer Schweizer Zeitung! Wenn Sie, wobei ich Ihnen unterstelle, dass Sie weder in der Romandie noch im Tessin noch im rätoromanischen Landesteil länger gelebt haben, die Schweiz nicht nur auf den Aargau, Zürich, und vielleicht noch Bern reduzieren, sondern ihren (sämtlichen!) BewohnerInnen auch noch Eigenschaften wie Rechtsextremität, „die Bereitschaft, wegzuschauen, Hetzer und Rattenfänger zu dulden“ unterstellen, ist das nicht nur rassistisch, sondern de facto genau das, was Ihrer Meinung nach hierzulande zu wenig kritisiert wir: Die Reduktion der Schweiz auf Irre wie Köppel und Blocher!
Zu Ihrem Paradebeispiel, ein muffiger Verkehrshüter, der Sie kontrolliert, als Ausländer deklariert und dann zu allem Überfluss auch noch mit der Floskel „scheint in Ordung zu sein“ entlassen hat, folgendes: Zu den kulturellen Unterschieden unserer zwei Heimatländer gehört eine unterschiedliche Sprache. Damit meine ich nicht einfach den Schweizer Dialekt, der vermutlich auch Ihnen aufgefallen ist. Nein, selbst in hochdeutsch (das übrigens viele SchweizerInnen deswegen nicht gerne sprechen, weil sie in der Schule neun Jahre lang dazu gezwungen wurden, oftmals verbunden mit unschönen Kommentaren der Lehrerschaft, je nach Stufe von „das war kuhdeutsch!“, „deine Aussprache ist so breit wie der Hintern eines Haflingers“ oder aber „Helvetismus!!“) unterscheiden wir uns massiv. SchweizerInnen, wobei ich mich dabei auf den deutschsprachigen Landesteil beschränke, drücken sich meiner Erfahrung nach deutlich vorsichtiger aus als Deutsche. Der Konjunktiv hat Hochkonjunktur, wir würden, hätten, wären. Dass wir Dinge sagen wie „es scheint“, anstatt „es ist“, hat mit dieser omnipräsenten Relativierung zu tun. Selbstverständlich kann der Polizist in Ihrem Beispiel auch einfach unfreundlich gewesen sein. Das kommt nämlich, wieder eine erschütternde Erkenntnis, auch in der Schweiz mal vor.
Da Sie alle gängigen Klischees betreffend Schweiz und SchweizerInnen bedienen, kommen Sie selbstverständlich auch beim Thema „Kuhschweizer“ vorbei. Letztlich, geben Sie zu Protokoll, seien Schweizer mental doch allesamt im Bergtal hängen geblieben. Ihren penetranten Hang zur totalen Pauschalisierung, der mich persönlich fatal an die SVP erinnert, blende ich hier mal aus, und frage Sie ganz einfach, ob Sie, als Chefredaktor soundso, mit Ihrem ganzen intellektuellen Gehabe, wirklich der Ansicht sind, dass Menschen, die in Städten leben, alleine aufgrund dieser Tatsache wirklich fortschrittlicher und in Ihrer Denke somit per se „besser“ sind, als Menschen, die in einem Bergtal leben? Ein kleiner Hinweis an dieser Stelle zu dem „Lokalrassismus“, über den Sie sich echauffieren: Die Eigenart, über das nächste Dorf, das nächste Tal, den nächsten Kanton herzuziehen, hat hierzulande tatsächlich eine lange Tradition. Allerdings: Es handelt sich hier meiner Meinung nach um Lokalpatriotismus, nicht -rassismus, und ist, was Sie offenbar nicht verstanden haben, nie wirklich ernst gemeint. Diese Sticheleien der Niderbipper über die Oberbipper beinhalten exakt jene Selbstironie, die Sie offenbar sämtlichen EinwohnerInnen der Schweiz absprechen. Leider scheint Ihnen derartiger Humor eine Nunance zu subtil zu sein.
Schliesslich und endlich möchte ich noch in aller Form auf Ihre Beobachtung der hiesigen „Streitkultur“ eingehen. „In Deutschland darf ich kritisieren und streiten, ohne deswegen als Störenfried zu gelten.“ Geehrter Herr Plate, hier treffen Sie meiner Meinung nach das erste (und auch letzte) Mal in Ihrem gesamten Artikel ins Schwarze. In der deutschsprachigen Schweiz kommunizieren die meisten Menschen wie erwähnt sehr viel vorsichtiger, als dies in Deutschland der Fall sein muss, wobei ich meine Einschätzungen hierbei auf das deutsche Fernsehen wie auch auf meine in der Schweiz lebenden deutschen Freunde, die, anders als Sie, gerne hier leben und hier alt werden wollen, abstütze. Mit einer meiner deutschen Freundinnen habe ich lange ausdiskutiert, dass wir einfach anders reden. So direkt und für mein Empfinden fast schroff wie sie werde ich nie kommunizieren können, selbst wenn ich sie dafür meist bewundere. Meine Sozialisation ist nun mal anders, hier macht sich diese ominöse „Mentalität“ bemerkbar. SchweizerInnen wie ich reden häufiger um den Brei herum als Deutsche, verwenden den Konjunktiv inflationär und werden meist nicht mal schroff, wenn sie mit jemandem streiten. Streit an sich gibt es hier nämlich schon, und es gibt, was Ihnen offenbar entgangen ist, auch noch andere Parteien als die SVP, welche dieselbige durchaus kritisieren – allerdings nie so heftig, ausfallend und persönlich wie das in Deutschland offenbar üblich ist. Da kann man nun davon halten, was man will, in Ihrem Fall offenbar wenig – doch das, werter Herr Plate, ist nun mal einfach einer dieser kulturellen Unterschiede, die Sie offenbar so verstört haben. Diese landestypischen Eigenheiten gegeneinander auszuspielen, erachte ich persönlich als wenig konstruktiv. Ich möchte nur anfügen, dass der vorsichtige Umgang miteinander in der Deutschschweiz auch darauf zurückzuführen ist, dass wir hierzulande, jenseits von Blocher und Co., die Dinge gerne exakt und differenziert betrachten. Das alleine führt schon dazu, dass unsere Streitgespräche harmloser wirken. Es ist, wie Ihr eigener Artikel zeigt, viel einfacher, mit plakativen, pauschalisierenden schwarz-weiss Aussagen so richtig zu provozieren, als wenn man seine Botschaft differenzierter und damit exakter auf den Punkt bringen will. Ihr für Schweizer Ohren aggressiver Tonfall, gepaart mit der undifferenzierten Verurteilung von gut 7.5 Millionen Menschen als fremdenfeindlich, antisemitisch und engstirnig betont leider genau das, was man hierzulande als gängiges Vorurteil Deutschen gegenüber kennt: Masslose Arroganz.
Sehr geehrter Herr Plate, ich bin nicht so naiv, zu glauben, dass Sie sich dazu herablassen, diese Stellungsnahme zu lesen. Egal, ich erachte die fäkalienlastige Kappe hiermit als katapultiert und widme mich ab nun wieder meinem urschweizerischen Bünzlitum.
Kuhschweizerische Grüsse,
Ihre Änni
Nachtrag: Dieser – durchaus auch ironisch überzeichnete – Artikel hat nichts mit einer Abneigung gegenüber Menschen, die ein anderes Herkunftsland aufweisen als ich selber, am Hut. Eine geschliffenere Stellungnahme zum NZZ-Artikel, geschrieben von einem ehemaligen Deutschen, finden Sie hier: „Was spricht eigentlich gegen Behaglichkeit?“, eine Replik von Peter Schneider im Tages Anzeiger.