An anderer Stelle habe ich für diejenigen unter euch, die mich nicht persönlich kennen, bereits ausgeführt, unter welchen Umständen ich aufgewachsen bin – bemerkenswert insofern, als dass meine Sozialisation wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten wirkt, geprägt von bäuerlicher Kultur, von Grossfamilie und ländlicher Abgeschiedenheit.
Um die exotisch anmutenden Umstände meiner Entwicklung zu beleuchten (welche für mich übrigens nach wie vor eine kollektive Erklärung/ Entschuldigung/ Ausrede für all mein auffälliges/ unangebrachtes/ manierenloses Verhalten darstellt), möchte ich euch an dieser Stelle die von mir besuchte Grundschule vorstellen, die sich durchaus von den meisten Grundschulen Mitteleuropas unterschied.
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Der Weiler, in dem ich aufwuchs, 6km vom nächsten Dorf entfernt, bestand anno dazumals aus mehreren Bauernhöfen, aus einer Käserei und einer Gesamtschule. Eine Gesamtschule ist, für alle nicht-hinterwäldlerisch geprägten LeserInnen, eine Schule, die aufgrund der geringen Schülerzahlen mehrere Klassen zusammenfasst – in meinem Fall hiess das, dass von der ersten Klasse bis zur sechsten alle SchülerInnen in einem Raum sassen und demgemäss auch von ein und der selben Lehrperson unterrichtet wurden. In meiner Klasse waren wir zu dritt, in der Klasse über mir war niemand und insgesamt, 1. bis 6. Klasse, waren wir 15 SchülerInnen. Diese Unterrichtsform verlangt theoretisch gutes Timing, wenn man davon ausgeht, dass nicht alle Aufgaben und Themen für Erst- und Sechstklässler gleichsam geeignet sind. Mein Lehrer damals sah das jedoch nicht so eng, was dazu führte, dass von der zweiten bis zur sechsten Klasse stets alle das gleiche Diktat schrieben- nur die Bewertung unterschied sich dann je nach Stufe.
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Unser Lehrer, Herr Häfeli, war ein grosser, hagerer Mann, der gemeinsam mit seiner meditierenden Gemahlin in einer Wolke von Pastellfarben, Gerstenbrei und übernatürlicher Schwingungen lebte, auf die Kraft von Steinen schwor, Fleischverzehr verurteilte, selbstgestrickte Mützen trug, stets mehrere Kerzen im Klassenzimmer brennen hatte und Kopfschmerzen mit ätherischen Ölen bekämpfte. Er fiel in unserem Kaff nicht nur durch seinen Öko-Fimmel auf (aus ökologischer Überzeugung verzichtete er aufs Autofahren, was dazu führte, dass bei jedem Schulausflug die Eltern der SchülerInnen Taxi-Dienst leisten mussten – seine hehren Überzeugungen hörten jedoch zum Beispiel dabei auf, als dass er seinen Müll im Wald unter dem Schulhaus entsorgte), nein, auch seine anthroposophische Ausrichtung war in der bäuerlichen Umgebung doch eher auffällig und prägten nicht nur sein Privatleben, sondern bestimmten auch den Lehrplan. So lernten wir unendlich viele Lieder und Tänze, malten stundenlang mit nur zwei Grundfarben seine Bilder ab (mit Gelb und Blau. Zwei oder dreimal im Jahr erhielten wir einen Hauch Rot. Das führte jeweils zu Freudentänzen im Klassenzimmer! Und nein, wir durften nicht frei malen, sondern mussten nach seiner Anleitung sein Sujet nachmalen.), gingen im Wald Vogelstimmen bestimmen oder spielten bei Frau Häfeli, die Jahre später von ihrem Selbstfindungstrip bei einem Guru in Tibet nicht mehr zu Herrn Häfeli zurückkehren sollte, hingebungsvoll Blockflöte.
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Die Arbeitsblätter der offiziellen Lehrmittel habe ich in den vier Jahren, die ich diese Schule besuchte, nie gesehen, ebenso wenig wie autoritäre Massnahmen wie Strafaufgaben. Er sei gegen solche Dinge, erklärte Herr Häfeli in seinen blassgrünen Leinenhosen, stattdessen gebe er mir eine „Gedächtnisstütze“ mit nach Hause, als ich zum wiederholten Male etwas vergessen, verloren oder sonstwie verschusselt hatte. Die Gedächtnisstütze war nichts anderes als ein 12ströphiges Gedicht, das ich auf den nächsten Tag auswendig lernen sollte. Strafaufgaben? Nein!! (Ich benötigte in den vier Jahren viele, viele Gedächtnisstützen – zum Frust von Herrn Häfeli hatte ich jedoch ein ausgezeichnetes Gedichte-Gedächtnis, wonach ich das Gedicht nach zweimal durchlesen auswendig konnte – ob mein verheerender Hang zu schlechter Lyrik daher stammt, bleibt ungeklärt).
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Wie es vielleicht ersichtlich ist: Ich entsprach leider überhaupt nicht Herrn Häfelis Vorstellungen einer Musterschülerin. Trotz seiner betont antiautoritären Haltung landete ich bereits in der ersten Klasse mehrmals vor der Tür. Zu meiner Verteidigung: Ich war nie absichtlich frech, jedoch leider, und ich stehe dazu, eine unglaubliche Klugscheisserin. So verbesserte ich Herrn Häfeli zum Beispiel umgehend, als dieser alles Ernstes behauptete, „Urbi et orbi“ bedeute „Bete und arbeite“… Seinen Ausführungen und seinem Weltbild hielt ich unbeirrt meine neunmalkluge Meinung entgegen, und, schlimmer noch, liess meine Sprache zuweilen ins Vulgäre entgleisen. So erhielt ich von Herrn Häfeli eine ausgewachsene Standpauke, als ich – leider in seiner Hörweite – zu meinem Schulkameraden, dem Sohn des Käsers, sagte: „Zum Glück ist heute nicht Montag! Der Montag ist Scheisse, da haben wir Handarbeiten!“ Herr Häfeli war ob dieses Kraftausdruckes wie auch der daraus folgenden Abwertung des Handarbeitunterrichts einmal mehr gelinde gesagt entsetzt, und so kam es, dass er mir keine Träne nachweinte, als ich in der vierten Klasse die Sekundarschulprüfung bestand und in die Dorfschule wechselte.
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2 Kommentare
Lavendelkinder
12. Dezember 2012 bei 08:07Liebe Änni.
diese Schule hätte ich auch gern besucht. Stattdessen saß ich, gefangen mit 32 Gleichaltrigen in einem muffigen Klassenzimmer, immer in der Angst, der Direktor könne hereinkommen, ein großer, dicker, seitengescheitelter Mann, stets einen Zigarrenstumpen im Mund und ordentlich Schleim im Hals hochräuspernd, der leidenschaftlich gern kleine Grundschüler mit lautem Schreien erschreckte.
Dann doch lieber einen anthroposophisch-ökologischen Hernn Häfeli, der Vogelstimmen sortiert.
Was für eine Idylle (jajaja, ich weiß, ist ja nur Idylle, weil ich nicht dabei war, aber egal, ich träume mich da gerade in eine Welt ohne Schimpfworte hinein, verdammte Hacke, also bitte!).
Im stillen Kämmerlein hat Dir der Herr Häfeli (allein der Name, herrlich) ganz sicher ein Tränchen hinterhergeweint. Hatte er doch sicher deutlich weniger pädagogische Herausforderung nach Deinem Abgang, oder? Und davon lebt doch der Lehrerberuf.
Liebe Grüzelis,
Britta
Änni
12. Dezember 2012 bei 20:11Hoi Britta,
Wenn ich das so höre, muss ich zustimmen: Lieber Anthroposophen-Flausch antatt ein autoritäres Regime. Meine Schulzeit da war höchstens etwas langweilig, und je älter ich wurde, desto mehr Paradoxien entdeckte ich zwischen Herrn Häfelis Äusserungen und den zugehörigen Handlungen – aber gelitten habe ich unter Herrn Häfeli bestimmt nicht, eher umgekehrt…
Jahre später, als Frau Häfeli bereits nach Tibet zu ihrem Guru durchgebrannt war und Herr Häfeli sich doch noch ein Auto kaufte, erzählte mir mal ein Nachbarskind, Herr Häfeli erwähne meine Aufsätze immer noch lobend – ich habe bei ihm also offenbar doch nicht nur durch mein systemkritisches Verhalten Eindruck gemacht! 🙂
Liebe Grüsse durch den Schnee,
Änni