Vor kurzem fühlte ich mich grandios. Nicht, dass das etwas besonderes wäre, nein, ich fühle mich meistens ziemlich grandios, grandios ungeschickt, zum Beispiel, oder grandios verpeilt, gerne auch grandios müde, aber wie auch immer, ich fühlte mich also grandios, und zwar in diesem Falle grandios vorurteilsfrei.
Es ging um Tattoos und Piercings und Tunnel und so weiter und so fort, und der Tenor des Gesprächs war gerade irgendwo bei „aber irgendwo ist dann auch echt Schluss mit gesellschaftlich akzeptabel“, „also als Versicherungsvertreter kannst du das echt nicht bringen mit sichtbaren Tattoos“ und „ich würde die Bank wechseln, wenn mein Vermögensberater tätowiert und gepierct daher käme“ angelangt, als ich ein lockeres „so? Ich nicht.“ in die Runde schmiss – und mir ab da grandios vorkam.
Es ist so, ich glaube nicht, dass ich je eine Bank, eine Versicherungsgesellschaft oder einen Zahnarzt danach aussuchen werde, ob die Mitarbeitenden nun sichtbare Piercings und Tätowierungen tragen oder nicht. Wozu auch? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Versicherungsvertreter besser arbeitet, nur weil er keine Tattoos trägt. Ich glaube nicht, dass ein Nasenpiercing irgend einen Einfluss auf die Kompetenz einer Zahnärztin hat, ich glaube genau so wenig, dass eine Bankangestellte ihren Job nicht seriös ausführen kann, weil sie einen Lippenstift trägt, der mir nicht gefällt, oder dass ein Buchhalter ungeeignet ist für seinen Job, weil er scheussliche Krawatten – oder eine Augenklappe / Rastas / ein Kopftuch / eine Taucherbrille / einen engen Paillettenfummel bei der Arbeit trägt. Was hat das eine (die äussere Erscheinung) mit dem anderen (Kompetenz) zu tun?
Ich fühlte mich also wie erwähnt immer noch ziemlich grandios, moralisch überlegen wie schon lange nicht mehr, als ich heute nichts Böses ahnend durch die Tür eines Coiffeurgeschäftes trat.
Man muss dazu wissen, ich hasse Coiffeurbesuche und vor allem hasse ich Coiffeurbesuche in Geschäften, in denen ich noch nie war. Über Jahre hinweg fuhr ich durch die halbe Deutschschweiz, nur um mir meine Haare nach wie vor von „meiner“ Coiffeuse schneiden zu lassen – doch dann bekam die ein Kind und hörte auf, dort zu arbeiten. Mein nächster Coiffeur war dann nahe an meinem Wohnort und machte seine Sache wirklich gut – bis er einmal mit einer Kundin ein Gespräch über Flüchtlinge führte, das bei mir immer noch Übelkeit auslöst, wenn ich nur daran denke. Somit disqualifizierte er sich in alle Ewigkeiten, was wiederum dazu führte, dass ich also heute zum ersten Mal über die Schwelle dieses Geschäftes trat, um mir die Haare schneiden zu lassen.
Ich trat ein, und mir stockte der Atem. Eine junge Frau trat mir entgegen, und ich musste zwei, dreimal zwinkern, um sicher zu gehen, dass es sich nicht um eine grausame Fata Morgana handelt – ich hatte jedoch Pech, und die Erscheinung stand nach wie vor vor mir. „Sie haben einen Termin?“ Sie lächelte mit professioneller Freundlichkeit, und ich wurde mir gewahr, dass ich augenblicklich aufhören musste, sie unverhohlen anzustarren. „Ja“, würgte ich hervor und versuchte, mich innerlich wieder zu beruhigen: „Sie begrüsst mich nur. Sie wird mir meinen Mantel aufhängen und mich zu meinem Platz führen. Dann wird die „echte“ Coiffeuse kommen, und alles wird gut. Ommm.“
Die junge Frau führte mich in der Tat zu meinem Platz. Leider zupfte sie dann an meinen Haaren herum und wollte wissen, wie ich sie denn geschnitten haben wolle. Grauen machte sich in mir breit.
Wie soll ich sagen? Die junge Frau, und es tut mir wirklich leid, so oberflächlich zu sein, sah in meinen Augen wirklich aus, als ob sie eine Reihe unschöner Unfälle hinter sich hätte. Zuerst, vermute ich, fiel sie wohl in einen riesigen Topf mit Wasserstoffperoxid, wahrscheinlich mit dem Kopf voran. Ich weiss ja auch nicht, wo solche riesigen Töpfe einfach so rumstehen, dass man als junge Frau da einfach so reinfallen kann, aber so musste es gewesen sein. Vielleicht war der Topf lediglich mit losen Brettern abgedeckt, sie wollte da drüber klettern, warum auch immer, und dann knirschte es, ein morsches Brett gab nach, und mit einem gellenden Schrei fiel die unglückselige junge Frau in den riesigen Topf voller beissender Chemie.
Es dürfte sie einige Zeit gekostet haben, sich aus dieser misslichen Lage zu befreien, und man muss ihr an dieser Stelle echten Respekt aussprechen, denn wer kann schon von sich sagen, dass er sich aus einem riesigen Topf voller Wasserstoffperoxid befreien konnte?! Jedenfalls, ich kann nur erahnen, dass die junge Frau danach weiterhin in Kletterlaune war, vielleicht trainierte sie ja gerade Hürdenlauf?! Sie kletterte also über das nächste riesige Hindernis, ein ebenso immenser Topf mit Selbstbräuner, als sie einen unbedachten Schritt tat, ins Leere trat und wiederum mit einem gellenden Schrei in freiem Fall in die unendlichen Weiten des Selbstbräuner-Topfes entschwand. Das arme Ding!! Kann es etwas Grauenvolleres geben, als nach einer mühseligen Flucht aus dem Wasserstoff-Topf ausgerechnet noch in einen Selbstbräuner-Topf zu fallen?! Aus dieser weiteren misslichen Lage zu fliehen hat die junge Frau offenbar sehr viel Zeit gekostet. Ich kann aufgrund ihres Äusseren nur vermuten, dass es wirklich knapp wurde und sie sich in letzter Minute, als sie kurz davor stand, sich selber in Selbstbräuner zu verwandeln, in einem wahren heroischen Kraftakt aus diesem furchtbaren Topf befreien konnte.
Leider, so scheint es, hatte sie danach nicht mal kurz Zeit, um einmal gründlich durchzuatmen. Nein, das Schicksal hatte es wirklich nicht gut mit ihr gemeint! Da stand sie, knapp dem Verderben entronnen, als der Boden unter ihr schon wieder nachgab, und sie wiederum laut schreiend und Kopf voran in ein riesiges Becken voller billiger Wühltisch-Kosmetik stürzte. Dort blieb sie erst einmal ziemlich lange genau so stecken, den Kopf tief in grellem, pinkfarbenen Lippenstift, knallblauer Mascara, lila Glitzer-Lidschatten, rotbraunen Augenbrauenstiften und Flüssigmakeup von der Farbe von Durchfall vergraben. Es wird, so wie ich das sehe, wohl kaum möglich gewesen sein, dass sie sich alleine wieder befreien konnte, und ich denke, sie wird, mit dem Kopf nach wie vor eingesteckt und mit den Armen wild durch all die Farbtöne rudernd, irgendwann von einem Bernhardiner samt Fass am Nacken dort rausgeschleift worden sein. Wie es sich für einen Bernhardiner gehört, wird er ihr im Rahmen der Wiederbelebung mit dem Fass noch zünftig Wasser über den Kopf geschüttet haben und ihr danach mit seiner riesigen Zunge liebevoll das Gesicht abgeschlabbert haben. Es ist echt unglaublich, möchte ich an dieser Stelle noch anfügen, dass sich die junge Frau nach diesen ganzen schauderhaften Vorfällen dennoch pflichtbewusst direkt zu ihrem Arbeitsort aufgemacht und sich dort, als wäre nichts gewesen, die Coiffeusenschürze umgebunden hat. So viel Einsatz für den Arbeitgeber gibt es heutzutage ja kaum noch von so jungen Leuten!!
Jedoch, und das frage ich mich wirklich: Was habe ich verbrochen, dass ausgerechnet ich auf diesem Stuhl sitze, während die so grauenvoll verunfallte Coiffeuse die Schere hervorpackt? Ich meine, die Gute hatte eine furchtbare Nacht, ihr Hürdenlauftraining geriet völlig ausser Kontrolle, sie muss völlig neben sich stehen?!
Wie dem auch sei, ihr erahnt die Pointe: Nein, auch ich bin nicht gefeit vor Äusserlichkeits-Vorurteilen. Wenn sich jemand um mein Aussehen kümmert, der aussieht wie diese junge Dame, gehen bei mir diverse Alarmglocken los. Aber, um die im Raum stehende Frage abschliessend zu beantworten: Ja, sie hat meine Haare akzeptabel geschnitten, nein, ich kam ohne gebleichte Haare und Selbstbräuner da wieder raus, und ja, sie hat nur kurz gezuckt, als ich ihr offenbarte, dass ich meine Haare mit Henna färbe.
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